Anne
collage #094
...man kann genau zwischen zwei herzschlägen eintauchen und sich vom nächsten überschwemmen lassen
wie vom schönsten und größten warmen ozean, den es je gab. seine augen brannten höllisch. er wollte sie nicht schließen,
aber sie taten weh. er wollte SEHEN! bum! hatte es je etwas so schönes gegeben wie den? und noch einer....bum! phantastisch!
besser können sie gar nicht kommen. er war schon mitten im letzten atemzug seines lebens, als er merkte, dass es der letzte war.
doch das war in ordnung. bum! unglaublich! und NOCH einer? wie viele willst du mir denn noch geben?
er kauerte sich ins dunkel zwischen zwei herzschlägen und ruhte dort aus. und dann sah er, dass kein weiterer mehr kommen würde.
schluss. das war der letzte. er schaute das dunkel an. ich würde diese gelegenheit gern nutzen, sagte er, um für einen anderen menschen zu beten...
(denis johnson)
Wenn man das Leben nicht als vollkommener Eremit zubringt, und sich statt dessen unter die Menschen begibt, mit ihnen in Beziehung tritt, sich ihnen aussetzt, von Menschen beeinflußt und durch sie bereichert, überrascht und gespiegelt wird, dann fällt es sehr schwer, diese Begegnungen nicht zu bewerten. Der eine Mensch kommt einem näher; der andere wiederum berührt einen nur kurz; den anderen bemerkt man kaum; einige hätte man gerne niemals getroffen... und wieder andere kann man nur als ein Wunder beschreiben, mit dem man in Kontakt kommen konnte, wo der Dank dafür mit Worten nur mangelhaft umschrieben werden kann.
Ich will es dennoch versuchen.
Das erste Mal begegnet bin ich Anne bei einer externen Fortbildung um das Jahr 2003 herum zum Thema Lotus Notes, wo an einer Stelle des Seminars die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich wild und sinnlos E-Mails senden sollten, um die Optionen dieser elektronischen Kommunikation zu erproben. Also wurde wildest gemailt... dummes, gescheites, lustiges, sinnvolles. Es wurden Anhänge versendet, Weiterleitungen versucht und bisweilen sah man sich an den Bildschirmen vorbei an, weil der Inhalt der Nachrichten zu einem Schmunzeln herausforderte.
In einer Pause dann kam ich mit Anne ins Gespräch und als wir uns die Hände zur Begrüßung zustreckten, traf uns beide ein elektronischer Schlag. Unsere Körper waren vom Plastikfußboden aufgeladen, und wir lachten darüber.
Sofort verständigten wir uns auf literarischer Ebene und beim gemeinsamen Stück des Heimweges nach dem Seminar wurde weiter über literarische Zitate und Bezüge geredet. Dabei war von Beginn weg dieser Humor zu spüren, dieses gegenseitige Verstehen.
Als wir uns dann in der U6 zum Abschied die Hand erneut reichten, britzelte es erneut. Der Funke war gesprungen, wir haben darüber noch jahrelang gelacht.
Wochen später dann ein erstes Treffen im Café Eiles. Sofort waren wir bei Doderer, dann bei Rilke, bei Bernhard, und bei unzähligen anderen Autoren. Doch die Themen kreisten auch schon bei diesem ersten Beisammensein weiter, hin zu Themen aus der Arbeit im selben Verein, hinüber zu nahesten Befindlichkeiten. In kürzester Zeit war eine Freundschaft geboren, die Tragkraft hatte, vergleichbar mit einer Brücke, die zwar schwingt, aber nicht im Traume daran denken könnte, einzustürzen.
So ging es weiter. Anne und ich trafen uns, wir redeten, die Brücke wuchs, der Strom des Lebens floß unter uns weiter, an uns vorbei.
Als ich, einige Jahre später, ein Weblog-Projekt hatte, bei dem Besucher meines ersten Blogs Zitate beisteuerten, und ich dazu dann kleine Collagen anfertigte, war Anne eine von zwei Zitatequellen, die meine Kreativität immer wieder auf die beste Probe stellte. Ihre Belesenheit, ihr Gefühl für die wunderbaren Stellen in all den vielen Romanen, die sie gelesen - und verinnerlicht - hatte, war nahezu beispiellos. (Oben und unten bei diesem Text habe ich zwei der besten Collagen nach Zitaten, die Anne gestellt hatte, angefügt).
Bei unseren Treffen, die in loser Reihenfolge - und immer ohne Besehens der Uhr - stattgefunden haben, zuletzt fast nur noch im Café Weimar in der Währinger Straße, entspann sich immer ein Reigen von Themen, bei welchen wir wie bei einer musikalischen Variation zu zweit die Argumente, Gedanken und auch Gefühle hin und her pendeln ließen. Sie war Ohr und Auge wenn es mir gut ging, sie war aber auch Herz und Verstand, wenn es mir dreckig ging und ich mit diversen Problemen des Lebens kaum zurande kam.
Anne war da, bot mir neue Perspektiven, hörte zu, war mit mir traurig, lachte mit mir. Begleitete mich - und ich auch sie.
Später dann begann sie - das zweite mal in ihrem Leben - selbst wieder zu schreiben, und berichtete mir von ihrer Arbeitsweise, von dem liebenden Umgang mit den Texten, und hier konnten wir dann ganz praktisch von zwei unterschiedlichen Seiten, nämlich ich von der Malerei und der Musik, sie von den Worten und den Texten, aber auch von ihrem profunden Kennen der menschlichen Natur und Seele her, Schnittpunkte finden, über Details diskutieren, fachsimpeln und voneinander lernen.
Es war ein immerwährendes gegenseitiges Befruchten auf geistiger Ebene, das im Laufe der Jahre zu einem Baum gewachsen ist, der im Garten meines Lebens stand.
Auch 2012, als mich eine schwere Krankheit fast niederstreckte, war Anne da... und da auch bei ihr einige Krankheiten des Körpers ihr Leben deutlich mühseliger machten, verstanden wir uns auf dieser Ebene ohne vieler Worte.
Das Leben hatte uns beiden gezeigt, dass es jederzeit zu Ende sein konnte. Also wendeten wir uns beide dem Leben selbst zu, machten das Beste daraus.
Anne hat das getan. Ihre Bücher wurden publiziert, sie ist eine beeindruckende Stimme in der Literatur geworden und hat sich damit einen Traum erfüllt, den sie lange kaum für realisierbar gehalten hatte.
In den letzten Monaten habe ich viel über Menschen nachgedacht, die in meinem Leben einen Platz haben, der dauert, einen Ort einnehmen, der nicht einnehmbar ist, die mich auf eine Weise bereichert und beschenkt haben alleine schon dadurch, dass es menschen wie sie gibt.
Einer dieser Menschen war Anne, denn sie ist am 11. Oktober 2021 nach langem Leiden und kurzer unerwartbarer Verschlimmerung ihrer gesundheitlichen Situation verstorben.
Doch: Wir tragen die Gegangenen in uns.
Die Erkenntnis, dass ich Anne niemals wieder im Café Weimar gegenübersitzen werde; dass ich ihr niemals wieder von einem neuen künstlerischen Projekt erzählen kann; dass sie mir niemals wieder berichten kann, wie glücklich sie über ein neues Kapitel ihres neuen Romans ist; ich niemals wieder sehen werde, wie glücklich sie lächelt, wenn wir wieder einmal mit Wortspielen blödelnd die Zeit vergessen... diese Erkenntnis lässt mich fast zerbrechen.
Aber andererseits ist da auch das Wissen, und auch das Gefühl, dass all das Gewesene eben dadurch, dass es war, auch ein Teil von mir selbst ist, und ich auf diese Weise Anne immer mit mir weiter tragen kann, ja auf diese Weise immer mit ihr zeitlos verbunden bleiben werde. Das ist nicht nur ein Trost, das ist ein neues Wunder, das dem Tod selbst keine Chance gibt.
Ja, es ist auch ein Auftrag, weil eine der gemeinsamen Erkenntnisse von Anne und mir immer war, dass das Leben eben all das beinhalten muss, um Schön und Wahr zu sein: das Dunkle und das Helle, das Schwere und das Leichte.
All das will angenommen sein, umarmt, gespürt; und mein Leben ist dank Anne ein besseres, und wird es dank Anne auch künftig sein.
Liebe Anne - ich bin glücklich, dir begegnet zu sein.
Danke für alles: dein Platz in meinem Herzen wird niemals leer sein, und das wusstest du auch.
collage #066
...mir war zumute, als wäre ich nun wirklich woanders, am ziel meiner reise angelangt.
ich mochte nicht mehr weg von hier, vor hunderten von jahren war ich hier gewesen,
aber ich hatte es vergessen und nun kam mir alles wieder.
ich fand jene dichte und wärme des lebens ausgestellt, die ich in mir selber fühle.
ich war dieser platz, als ich dort stand.
ich glaube, ich bin immer dieser platz...
(elias canetti, die stimmen von marrakesch)
david ramirer - Montag, 18. Oktober 2021, 19:22