Woher Wir Kommen

Wenn eine Pflanze, zum Beispiel ein Baum, zu wachsen beginnt, geht der erste Schritt in die Erde. Ein Wurzelbein streckt sich in die Muttererde und ermöglicht, den Halt zu finden, der notwendig ist, um oben über der Erdoberfläche eine für uns sichtbare Aktion zu setzen: wie eine erste Linie in einer Zeichnung, wie der erste Ton in einem Musikstück, wie der erste Schritt eines Kindes, wie der erste Strahl der Sonne, der in der Frühe über den Horizont bricht - ungefähr so streckt sich ein erster Trieb durch die Erdoberschicht in die Luft. Am Beginn ist es nur einer, er wächst dem Licht entgegen, erhebt sich von seiner Herkunft und irgendwann teilt er sich zum ersten Mal und hat somit ein Thema gefunden. Die Nahrung kommt aus der Erde und dem Wasser, die Luft bewegt ihn oben, Regen rinnt über seine ersten Blätter und vom ersten Tag an reagiert er auf die Luft, den Klang, die Umgebung, den Geruch. Nach mehreren Jahren, Jahrzehnten, bei manchen Bäumen auch Jahrhunderten, hat der Baum ein vielfaches an Größe erreicht. Er bietet Heimstatt für eine Unzahl von Mikroorganismen, Säugetieren, parasitären Pflanzen, erzeugt Sauerstoff mittels der berühmten Photosynthese, und so weiter, wir kennen das alles aus dem Biologieunterricht. Für die meisten Menschen ist ein Baum nur ein Glied einer Kette in einem großen biologischen System, und es ist keine Frage, daß er das, von einer wirtschaftlichen Warte aus betrachtet, auch ist. Wenn wir uns aber dem Baum nähern, ihn uns ansehen, ihn fühlen, uns in ihn hineinversetzen, dann merkt man recht deutlich, daß es da mehr gibt; daß da in diesem imposanten „Naturprodukt“ etwas wunderbar kreatives und künstlerisches steckt. Versuchen Sie einmal mit mir zusammen, sich einen Baum vorzustellen: Einen ganz alten, sehr großen Baum. Wir stehen vor dem Baum; Wir blicken zunächst auf den Bereich vor uns, wo der Stamm aus der Erde kommt. Nun heben wir den Blick langsam nach oben; weiter, weiter, bis die erste Gabelung des Baumes sichtbar wird: Zwei sehr dicke Äste trennen den Stamm in zwei Richtungen, jede dieser Richtungen trennt und teilt sich recht bald weiter, womit aus der Zweiheit eine Dreiheit, aus der Vierheit eine Achtheit, aus der 16heit eine 32heit wird und so fort. Am Ende dieser frei improvisierten und gar nicht sehr sklavischen geometrischen Reihe stehen die Blätter, die wir über unserem Kopf sehen können gegen das Himmelshell, die sich im schwachen Wind bewegen und ein flirrendes Muster bilden, bei dem jedes Blatt an einem Ort sich befindet, der abgeleitet ist von dieser allerersten Teilung ganz zum Beginn, die sich immer noch an der prominentesten Stelle unseres Baumes befindet, die immer noch, nach all den Jahren, das Thema ist, über das der Baum seine restliche Form aufbaut, und immer wieder verändert. Jedes Jahr kommen neue Zweige dazu, verzweigt er sich neu, bildet er neue Blätter, neue Blüten, neue Früchte, bewegt sich mit dem Wind und reagiert auf alles. Wird er von Regentropfen umperlt und von Sonnenlicht erhitzt, vom kühlen Mondlicht erfrischt; umgeben ihn die Geräusche und Klänge rundherum: Tiere, Menschen, Autobahnen, Flugzeuge, Häuser, Donner, Musik. Man kann, wenn man es will, an der Form des Baumes dieses Reagieren auf die Umgebung sehen; kann es auf wunderbar klare Art und Weise auch hören, wie er sich bewegt zu all dem rundherum, wie die Zweige, Blätter, Äste, Früchte, die ihn AUSMACHEN, nichts anderes sind, als ein sichtbares Lied über das, was er SPÜRT und ERLEBT und WEISS.

Kunst zu machen, Künstlerin oder Künstler zu sein, ist eine Frage der Existenz. So wie ein Baum seine erste Teilung als einschneidenden Moment empfinden muß, als eine Initiation, so ist es auch bei einer jeden, nicht nur künstlerischen, Existenz entscheidend, diesen Moment zu spüren und heiligzuhalten. Nur dann nämlich kann sich diese existenzielle Erfahrung eventuell auf die Bilder übertragen, nur dann kann auch die Verantwortung getragen werden, die notwendig ist, wenn Bilder etwas bedeuten sollen. Nur dann hat Kunst Seele.

Hat Kunst Seele? Hat ein Baum eine Seele? Seele kann niemand haben, auch kein Mensch. Seele ist kein Besitz. Das ist dem Baum klar. Ist er ja auch schon weit erfahrener im Umgang mit seiner Umwelt und seiner eigenen Bedeutung, seinen Möglichkeiten, als wir jungen, pubertären, eingebildeten Menschen - es derzeit sind. Er lächelt gütig über unsere Versuche, die Welt zu verstehen, und ist dennoch nicht überheblich, weil er weiß, wie schwierig es am Anfang ist. Er hat die Niederungen unserer menschlichen Irrwege hinter sich. Er ist am Ziel. Er ist am Weg.


Er ist.

(mai 2000)
walküre - 8. Jul, 11:32

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