alles gute zum 100. geburtstag
(...) Er betrachtete das Werk – denn als solches erschien es immerhin auch seinem einfachen Gemüte – zum ersten Mal mit ein wenig Aufmerksamkeit und trennte sich so innerlich von einer endlosen Reihe der Passanten, die täglich unter ihre Füße treten, was sie eben darum nie gesehen haben. Als eine Gliederung des jähen und also seiner Natur nach stumpfen und brüsken Terrain-Abfalles wuchs es empor oder kam es eigentlich herab, dessen unausführliche und also beinahe nichtssagend-allzufertige Aussage nun in zahlreiche anmutige Wendungen zerlegend, an denen entlang der Blick nicht mehr kurz ab und herunter glitt, sondern langsam fiel wie ein schaukelndes und zögerndes Herbstblatt. Hier wurde mehr als wortbar, nämlich schaubar deutlich, daß jeder Weg und jeder Pfad (und auch im unsrigen Garten) mehr ist als eine Verbindung zweier Punkte, deren einen man verläßt, um den anderen zu erreichen, sondern eigenen Wesens, und auch mehr als seine Richtung, die ihn nur absteckt, ein Vorwand, der versinken kann noch bei währendem Gehen. Dort oben, wo rechts die ockergelbe, einzeln und turmartig in den blauen Himmel hochgezogene Schulter eines kleinen, tief in sein inneres möbelhaftes Schweigen versunkenen Palais überstiegen und zurückgelassen wurde von einer hohen, in feinste Ästchen aufgelösten Baumkrone vor dem Sommerhimmel: dort oben schwang sich der Abgang zur ersten Rampe herein, würdig und ausholend in den baumreichen Hang, mit flachen, nicht mit steilen, eiligen, mühseligen Treppen. Hier war empor zu schreiten, hier mußte man herunter gezogen kommen, nicht geschwind hinauf oder herab steigen über die Hühnerleiter formloser Zwecke. Die Stiegen lagen da für jedermann, für’s selbstgenuge Pack und Gesindel, aber ihr Bau war bestimmt, sich dem Schritt des Schicksals vorzubreiten, welcher nicht geharnischten Fußes immer gesetzt werden muß, sondern oft fast lautlos auf den leichtesten Sohlen tritt, und in Atlasschuhen, oder mit den Trippelschrittchen eines baren armen Herzens, das tickenden Schlags auf seinen Füßlein läuft, auf winzigen bloßen Herzfüßlein und in seiner Not: auch ihm geben die Stiegen, mit Prunk herabkaskadierend, das Geleit, und sie sind immer da, und sie ermüden nie uns zu sagen, daß jeder Weg seine eigene Würde hat und auf jeden Fall immer mehr ist als das Ziel. Der Meister der Stiegen hat ein Stückchen unserer millionenfachen Wege in der Großstadt herausgegriffen und uns gezeigt, was in jedem Meter davon steckt an Dignität und Dekor. Und wenn die Rampen flach und schräg ausgreifen und querlaufen am Hange, den zweckhaften Kurzfall und all’ unsere Hühnerleitern verneinend; wenn ein Gang hier zur Diktion wird auf diesen Bühnen übereinander, und der würde-verlustige Mensch nun geradezu gezwungen scheint, sein Herabkommen doch ausführlicher vorzutragen trotz aller Herabgekommenheit: so ist damit der tiefste Wille des Meisters der Stiegen erfüllt, nämlich Mitbürgern und Nachfahren die Köstlichkeit all’ ihrer Wegstücke in allen ihren Tagen auseinanderzulegen und vorzutragen, und diese lange, ausführliche Phrase kadenziert durchzuführen – ein Zwang für trippelnde Herzln und für trampelnde Stiefel – bis herab, auf die Plattform, wo sich um’s Gewäsch und Geträtsche des Brunnens die sommerliche Einsamkeit dick sammelt, oder bis ganz unten zur Vase und zur Maske, die in eine warme stille Gasse schaut und ebenso unbegreiflich ist wie ein Lebendiges, sei sie gleich aus Stein. (...)
(Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege, Seite 330-332)
(Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege, Seite 330-332)
david ramirer - Montag, 29. November 2010, 12:35
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