II. Band
„Da Bach den II. Teil des Wohltemperierten Klaviers schrieb, hatte er bestimmt nicht mehr Anlaß, die
werckmeisterschen Praktiken zu erproben; diese waren zu dieser Zeit schon eine gewohnte Wahrheit und
bedurften keiner Nachhilfe mehr. Also mußte es ein Anderes sein, das ihn bewog, den Zyklus zu wiederholen.
Es war keine Bestätigung des schon einmal Gesagten, es war kein Ausverkauf und noch weniger ein
pedantes, schulmeisterliches Dozieren einer schon einmal geübten Verfahrensweise. Der Akt des Zweiten
Teiles war für Bach ein Erleben auf einer höheren Stufe. ‚... Auf höherer Stufe könne man nicht wissen,
sondern müsse alles tun, so wie im Spiel wenig zu wissen und alles zu leisten ist‘, steht bei Goethe. Und
Bach hat in dem sehr ernsten Spiel seines Schaffens alles geleistet: nicht nur, daß er im zeitlichen Gehorsam
sich der zeitgenössischen Unbedingtheit des herrschenden Tonsystems völlig inne wurde, sondern erinnernd
einflocht und einfließen ließ das musikalische Denken längst verklungener Jahrhunderte, und damit Inhalt
und Form der Fuge fest umriß und ihre Existenz in genaue Abhängigkeit des Themas brachte und
das Thema selbst aus dem Gesetz der Tonart formte.
Er bezog dies alles aufs Klavier, denn bei der Stille der Übung soll der Nachspielende die Geheimnisse
der Komposition erfahren und im Wissen um ihre Gesetze sein musikalisches Gewissen festigen. Das ist
ungefähr mit der Zweck dieses einsamen Werkes.“
Johann Nepomuk David (1895-1977): Das Wohltemperierte Klavier - Der Versuch einer Synopsis, 1962
werckmeisterschen Praktiken zu erproben; diese waren zu dieser Zeit schon eine gewohnte Wahrheit und
bedurften keiner Nachhilfe mehr. Also mußte es ein Anderes sein, das ihn bewog, den Zyklus zu wiederholen.
Es war keine Bestätigung des schon einmal Gesagten, es war kein Ausverkauf und noch weniger ein
pedantes, schulmeisterliches Dozieren einer schon einmal geübten Verfahrensweise. Der Akt des Zweiten
Teiles war für Bach ein Erleben auf einer höheren Stufe. ‚... Auf höherer Stufe könne man nicht wissen,
sondern müsse alles tun, so wie im Spiel wenig zu wissen und alles zu leisten ist‘, steht bei Goethe. Und
Bach hat in dem sehr ernsten Spiel seines Schaffens alles geleistet: nicht nur, daß er im zeitlichen Gehorsam
sich der zeitgenössischen Unbedingtheit des herrschenden Tonsystems völlig inne wurde, sondern erinnernd
einflocht und einfließen ließ das musikalische Denken längst verklungener Jahrhunderte, und damit Inhalt
und Form der Fuge fest umriß und ihre Existenz in genaue Abhängigkeit des Themas brachte und
das Thema selbst aus dem Gesetz der Tonart formte.
Er bezog dies alles aufs Klavier, denn bei der Stille der Übung soll der Nachspielende die Geheimnisse
der Komposition erfahren und im Wissen um ihre Gesetze sein musikalisches Gewissen festigen. Das ist
ungefähr mit der Zweck dieses einsamen Werkes.“
Johann Nepomuk David (1895-1977): Das Wohltemperierte Klavier - Der Versuch einer Synopsis, 1962
david ramirer - Montag, 15. Juli 2019, 02:01
Das Zitat von Goethe ist aus den Heften "Zur Naturwissenschaft" (Maximen und Reflexionen) und zwar aus dem "Zweiten Band, erstes Heft"
http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Aphorismen+und+Aufzeichnungen/Maximen+und+Reflexionen/Aus+den+Heften+%C2%BBZur+Naturwissenschaft%C2%AB
Da Goethe ziemlich unmusikalisch erscheint, (siehe sein Verhalten gegenüber Franz Schubert) ist die Aussage auch nicht auf Bach selbst gemünzt, sondern bezieht sich auf das Wissen (oder das vermeintliche Wissen) in der Naturwissenschaft.
Doch ist das Zitat hier sicher sehr gut verwendet. Ich selbst habe hier eine verwandte Entwicklung bei einem Pianisten entdeckt, den ich außerordentlich schätze, ihm aber trotzdem nicht so gerne zugehört habe, - in den späten Jahren. Es handelt sich um Alfred Brendel. Nach meiner Auffassung hat er die von ihm gespielten Musikwerke so gut studiert, dass beim Spiel nur mehr Töne übriggeblieben sind. Wunderbar, um sein Spiel zu studieren und als Referenz heran zu ziehen. Doch letztlich wirkte es in den späten Jahren für mich blutleer.
Vielleicht tue ich Brendel unrecht, aber bei Goethe ist sein (fehlendes) Musikverständnis auch in manchen Quellen erwähnt.
Doch der Vergleich mit dem Spiel (im doppelten Sinn des Wortes) mag recht zutreffend sein.
aber mit dem spiel - im weiteren sinne - hat goethe wohl einen punkt getroffen: tun, nicht mehr nur wissen oder denken, oder auch erklären wollen... das schwingt in den praeludien & fugen des zweiten bandes sehr stark mit. war der erste band noch ein sich aufbauender zyklus, der in sich eine sehr stringente logik hatte, greift der II. band ganz wo anders hin und über sich selbst hinaus, ja er bezieht sich an vielen stellen antipodisch auf den ersten band, kann aber trotzdem auch ganz alleine stehen.
es ist schade, dass es keine eigene handschrift des zweiten bandes und auch kein deckblatt gibt, und lediglich informationen aus zweiter hand vorhanden sind - bach kam leider nicht mehr dazu, sich dem in seinen letzten jahren neben der kantorentätigkeit (und den anderen spätwerken) vollumfänglich zu widmen.
wenn es bei brendel deiner meinung nach blutleer zugeht (wo ich dir mangels kenntnis gar nicht widerspreche), gibt es auch hier einen antipoden: glenn gould schlug wohl, was hintergrundwissen und beschäftigung betrifft nahezu jeden pianisten um längen, dennoch sind die meisten seiner interpretationen (vor allem dann, wenn er sich über bach hermacht, da gibt es nur wenige ausnahmen...) derart übertrieben maniriert und zum teil derart herzlos zu tode überinterpretiert, dass ich mich oft frage, was zu viel wissen auch alles "im aktiven sinne" kaputtmachen kann.
Aber ich lasse ihm einmal seine Bachinterpretationen. Was er aber sonst so alles gespielt hat, was ich auf youtube bekommen kann, ist für mich kaum ertragbar. Prokofiev precipitato aus der 7. Sonate hat zumindest den Vorteil, dass ich mir einbilden kann, dass ich das auch so hinbekomme. Bei der Sonate von Grieg, opus 7, ist sein Tempo fast schon zum aus der Haut fahren. Beethoven-Sturm-Sonate, an der übe ich gerade, die wird besser klingen als seine Version, usw. Ja ganz schlimm, die Liszt-Sonate in h-moll. Da kann man fast seine Gedanken aus der Interpretation lesen, aber die scheinen sich in einer ganz falschen Richtung zu bewegen. Technik und Wissen ist es nicht allein.
Von beidem habe ich zuwenig, aber trotzdem traue ich mich auf die Bühne und das Publikum bestätigt das sogar.
Übrigens mit folgender Aufnahme wurde ich dann gebeten, im Hunyadi-Schloss zu spielen. (Da gibt es dann auch Bach, Termin nenne ich noch, wenn er fixiert ist.) Die Aufnahme ist jetzt 5 Jahre her, und damals habe ich nur "geklimpert". Ich hatte nur drei Tage Zeit, auf einer Clavinova mir ein paar Stellen anzusehen, die ich zuletzt vor 15 Jahren gespielt hatte.
Vielleicht war das aber gut, um die geforderte "Naivität" zu erreichen.
https://www.youtube.com/watch?v=yKrLLlduC7Y
beim wohltemperierten klavier (schrecklich: das letzte praeludium und die fuge in h-moll aus band I hudelt & nudelt er herunter obwohl es die einzigen stücke sind, die globale tempoangaben enthalten! - und schon beim ersten praeludium in C-Dur (band I) macht er jeden "fluß" zunichte, indem er staccato noten erfindet, die hier keinerlei nutzen haben) und aber auch bei den partiten, inventionen... nutze ich seine interpretationen nur zu dem zweck, um zu hören, wie ich es sicher nicht umsetzen möchte.
bisweilen dehnt er auch das tempo derart, dass er langsame sätze de facto ohne nachvollziehbarer bindung zurücklässt... und das ist bei bach schon auch eine leistung (im negativen sinne).
ich schätze gould im grunde nur als theoretiker, er konnte wirklich wunderbar über musik reden, doch auch hier ist er bisweilen ein wenig engstirnig, wenn er werke von bach (die ihm nicht gefallen) auch auf eine weise demonstrativ spielt, dass sie tatsächlich niemandem mehr gefallen: wie z.b. mit der chromatischen fantasie & fuge, die er nicht gut fand und dann meinte: "menschen, die die chromatische und die toccata d-moll von bach mögen, können nicht auch die strengen fugenwerke schätzen." - das offenbart eine unglaubliche unkenntnis und engstirnigkeit.
gould wird überschätzt, das ist mein fazit.
Kleine Wortspende zu Goethe
@LaMamma
aber so ist das wohl mit den promis, nicht nur heute *lol*